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Beratungskompetenz für eine globalisierte Gesellschaft

Stefan Schmid (2021). Beratungskompetenz für eine globalisierte Gesellschaft. Kultur, Globalisierung, Migration. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 108 S.

Wie viele Bücher aus der Reihe „Beraten in der Arbeitswelt“ richtet sich auch der Band von Stefan Schmid an erfahrene Berater:innen und Einsteiger:innen, die neben praktischen Anregungen auch an Konzepten und Theorien interessiert sind. Ausgangspunkt und Arbeitsfeld dieses Bandes sind Beratungsanlässe „zwischen den Kulturen“, die in Zeiten weiterhin zunehmender Globalisierung insbesondere im (groß)städtischen Raum recht häufig vorkommen. Dabei kann Interkulturalität im Beratungskontext auf mindestens zwei Arten bedeutsam werden: zum einen als Thema und Anlass beispielsweise in der klassischen Migrationsberatung und zum anderen im Sinne von Sozialisationsunterschieden zwischen Klient:innen und Berater:innen.

Kulturelle Unterschiede in Beratungskontexten nicht zu berücksichtigen, lässt sich als „ethnozentrische Minimierung“ dieser Unterschiede verstehen. Und geschieht doch häufig, denn im Beratungssystem treffen nicht selten Menschen aufeinander, deren Selbstwahrnehmung einerseits von Offenheit und Vorurteilsfreiheit geprägt ist und andererseits durch Erfahrungen mit Diskriminierung und Andersartigkeit. Umso wichtiger erscheint es, die eigene Kultursensitivität in der Beratung zu reflektieren. Dazu lädt dieser Band ein.

Nach zwei einführenden Abschnitten fokussieren die vier folgenden Kapitel auf unterschiedliche Elemente einer interkulturellen Beratungskompetenz. In Kapitel 3 werden Modelle interkultureller Kompetenz vorgestellt, die Kultur als gemeinsam geteilte und veränderbare Konstruktion verstehen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Haltungen und Verhaltensweisen beschreiben, die bei auftretenden Störungen in der Kommunikation von einer Eigenbeteiligung ausgehen, eine Emotionsregulation ermöglichen, multiple Perspektiven einnehmen können und die Kategorie „Kultur“ nicht als Kausalerklärung, sondern als Einladung zur Entwicklung von Fragen und Hypothesen verstehen. In einer Synopse beschließt ein Modell interkultureller Kompetenz das Kapitel, in dem mit Grundhaltungen, Motivation, Kognitionen, Verhalten und Emotionen fünf Ebenen unterschieden werden.

Im vierten Kapitel zur kulturellen Selbstreflexivität werden Kulturdimensionen im Sinne von Unterschieden reflektiert, die in interkulturellen Beratungskontexten möglicherweise einen Unterschied machen. Dazu zählen ein unterschiedliches Hierarchieverständnis und daraus resultierende Erwartungserwartungen, ein unabhängiges vs. interdependentes Selbstkonzept, eine gesellschaftliche Diffusion vs. Trennung von Lebensbereichen, ein expliziter vs. impliziter Kommunikationsstil, ein monochrones vs. polychrones Zeitverständnis, Analyseorientierung vs. Handlungsorientierung, ein expressiver vs. instrumenteller Emotionsausdruck und eine starke vs. schwache Geschlechterrollengleichheit.

In Kapitel 5 werden mit dem Konzept der Akkulturation und Überlegungen aus Identitätstheorien migrationsspezifische psychologische Prozesse beschrieben. Hier geht es zum einen um Akkulturationsorientierungen und die Berücksichtigung von Erwartungen seitens der Aufnahmegesellschaft. Zudem wird auf mögliche Akkulturationsunterschiede in einzelnen Lebensbereichen und auf weitere Einflussfaktoren für unterschiedliche Akkulturationsorientierungen eingegangen. Mit Blick auf Identität und Zugehörigkeit werden sozialpsychologische Erkenntnisse vorgestellt und reflektiert. Hier geht es um Themen wie Differenzierung des Eigenen, Verallgemeinerung und Stereotypisierung des Fremden, Überhöhung von Unterschieden, Bevorzugung der eigenen Gruppe. Zudem werden Faktoren diskutiert, welche die Entwicklung einer individuellen kulturellen Identität beeinflussen. Mit der integrierten Bedrohungstheorie wird schließlich ein Ansatz präsentiert, der erklären soll, warum bestimmte kulturelle Gruppen als Bedrohung wahrgenommen werden und andere nicht. In diesem Kontext geht es um die Wahrnehmung symbolischer und realistischer Bedrohungen, um Fremdenängstlichkeit und um negative Stereotype.

Kapitel 6 ergänzt die bisherigen Anregungen in Bezug auf interkulturelle Grundhaltungen, der Motivation zur Reflexion und zur Vermittlung von interkulturellem Wissen sowie um Überlegungen zum kultursensiblen Handeln. Aus einer individuellen Perspektive geht es um einen offenen, nicht zuschreibenden Zugang zu kulturellen Aspekten, bei dem diese eher als Gelegenheiten für bescheidenes und entspanntes interkulturelles Lernen angesehen werden. Im Sinne einer interaktionellen Perspektive auf kultursensibles Handeln wird die Methode des interkulturellen Pendelns vorgestellt. Aus einer Kontextperspektive auf kultursensibles Handeln steht im Vordergrund, dass eine Migration eine oftmals deutliche Bedeutungsveränderung von Verhaltens- und Bewertungsmustern mit sich bringt. In der Beratung geht es dann häufig darum, die unterschiedlichen Kontextanforderungen zu thematisieren, zu reflektieren und mögliche Anpassungen oder Unterstützungsbedarfe zu eruieren.

Das abschließende siebte Kapitel enthält eine kurze kulturreflexive Abschlussbetrachtung, in der u. a. der Einsatz von Sprach- und Kulturmittler:innen in der Beratung thematisiert wird. Der gesamte Band besticht durch eine anregende Mischung aus theoretischen Impulsen, praktischen Hinweisen und hilfreichen Reflexionsanstößen. Zu jedem Themenkomplex gibt der Autor eine Vielzahl von Anregungen für die Beratungspraxis. Dabei handelt es sich sowohl um Hinweise und Fragen für Reflexionsprozesse als auch um Fallbeispiele zur Illustration. Insbesondere die vielen Reflexionsfragen bieten einen Fundus an Werkzeugen für die eigene Beratungspraxis. Intention des Autors bleibt es dabei sicherlich, auf Ambivalenzen hinzuweisen, die entstehen, wenn einerseits vermieden werden soll, dass eine kulturelle Zugehörigkeit als (in der Regel defizitär geprägte) Zuschreibung für Unterschiede herangezogen wird – möglicherweise auch noch empfunden als sogenannte „Mikroaggressionen“. Andererseits wäre es in Beratungskontexten wenig sinnvoll, mögliche kulturell bedingte Erfahrungsunterschiede nicht zu berücksichtigen, wenn diese als hilfreiche Erklärungsansätze und öffnende Handlungsoptionen dienen können. Hier bietet Stefan Schmid einen großen Theorien- und Methodenkoffer, mit dem es gelingen kann, solche Ambivalenzen zu erkennen, sie zu reflektieren und sie dem gemeinsamen Austausch zugänglich zu machen.

In diesem Sinne regt mich der kleine Band immer wieder dazu an, meine eigene Sensitivität für interkulturelle Beratungskontexte zu reflektieren. Darin wird er mir zukünftig ein Begleiter auf dem Weg einer zunehmend kultursensibleren Beratung sein.

Andreas Klink (Essen)