systhema blog

Das Karussell der Empörung

Arist von Schlippe (2022). Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 246 Seiten

Bereits Einband und Aufmachung des Buches versprechen Ästhetik, Leichtigkeit und eine anregend bunte Vielfalt. Und genau dieses Versprechen löst der Inhalt der insgesamt 21 plus 1 Kapitel dann auch ein. Viel mehr noch: dort, wo der Autor die Metapher des Karussells nutzt, um ein sich immer schneller drehendes Eskalationsgeschehen zu beschreiben, lässt sich diese Metapher ebenso für die Lektüre des Buches verwenden. Denn sie führte mich zurück in die Zeit der kindlichen Freude erster Runden auf dem Karussell, zu den aus der Sicht des Kindes vielfältigen Abenteuern im Cabrio, im knallroten Feuerwehrwagen, im Hubschrauber, im Polizeiauto oder auf dem Pferd – immer mit der Gewissheit, dass es in die gleiche Richtung geht und in jeder Runde außerhalb des Karussells die vertrauten Gesichter zu sehen sind. Alles dreht sich um eskalierende Konflikte, um ihre theoretischen Hintergründe (Teil 1), um jene Vorgänge, durch die wir in die Eskalation hineingeraten (Teil 2), um Ansatzpunkte zu ihrer Begrenzung (Teil 3) und um Empfehlungen für den Umgang mit ihnen (Teil 4).

Der erste Teil beginnt mit einer Eingrenzung des Gegenstandes und beschreibt u. a., dass es um jene Konflikte gehen soll, die nicht einfach wieder im Alltag verschwinden, in denen Prozesse eines wechselseitigen Widerspruchs sich selbstorganisiert fortsetzen und verschärfen, bei denen scheinbar unvereinbare Erwartungen mindestens zweier Parteien aufeinander treffen, die normativ und moralisch aufgeladen sind und in denen Empörung mit ihren besonderen Treibern personenbezogene Zurechnung, Motivunterstellung und wertende Beschreibung eine große Rolle spielt. Es geht also weniger um Aufgaben- und Prozesskonflikte oder um Konflikte als Motor für positive Veränderungen, sondern um eine sehr besondere Form von Beziehungskonflikten. Die Theorierunden führen an Konzepten vorbei, die den meisten systemisch kundigen Leser*innen vertraut sein werden – oder die ihnen auf eine von Schlippe’sche Weise schnell vertraut gemacht werden. So führt uns das Lesekarussell u. a. zur symmetrischen vs. komplementären Eskalation, zur doppelten Kontingenz, zu Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen, zu Affektlogiken, zu Kommunikationen als Elemente sozialer Systeme, zu unterschiedlichen Gerechtigkeitslogiken, zur Polykontexturalität und zur Empörung als moralische Empfindung, die sich (kognitiv) selbst bestätigt und verstärkt. Beispiele illustrieren die theoretischen Grundlagen – sowohl aus Konflikten in Unternehmerfamilien als auch aus anderen Kontexten.

Teil 2 des Buches beschäftigt sich mit der Fahrt auf dem Karussell – die immer schneller wird und uns dabei schwindlig werden lässt, so dass wir Überblick, Reflexionsfähigkeit und das Gespür für die anderen mehr und mehr verlieren. Hier laden uns beispielsweise Interpunktionen und Vereinfachungen in das Karussell der Empörung ein. Enttäuschte Erwartungen auf der Grundlage von impliziten Versprechen (psychologischen Kontrakten) erhöhen ebenso die Geschwindigkeit, wie die negativen Resonanzen eskalierter Konflikte im Selbstwert. Irgendwann geht es weniger darum, den Konflikt zu gewinnen, sondern darum, nicht zu verlieren – Gesicht, Würde oder gar Existenz.

Zunehmender Schwindel führt zur Einengung der Wahrnehmung auf der Grundlage von Heuristiken wie personenbezogene Zurechnung, Motivunterstellung, fundamentaler Attributionsfehler, feindseliger Wahrnehmungsfehler, konfirmatorische Informationssuche (confirmation bias) oder Gruppendenken. In den nächsten Runden folgen die Dämonisierung der anderen über die Zuschreibung als dumm, krank oder böse und das Denken verändert sich hin zu affektiv-kognitiven Eigenwelten. Die Kommunikation versucht mit dem immer schneller werdenden Karussell Schritt zu halten und wird zur Hochgeschwindigkeitskommunikation, die sich zudem in sich selbst eicht und den Bezug zum Gegenüber verliert.

In der zunehmenden Eskalation werden u. a. Dinge als „wahr“ angenommen, die nicht gesagt worden sind, und es wird erwartet, dass andere Dinge berücksichtigen, die man nicht gesagt hat. Kleine Geschichten und Beispiele illustrieren jeweils die beschriebenen Konzepte und lassen sie darüber schnell zu vertrauten Gesichtern am Rand des Karussells werden. Hinweise auf die transgenerationale Weitergabe von Konflikten und die neun Eskalationsstufen nach Glasl runden diesen zweiten Teil ebenso ab wie eine Perspektive auf den Konflikt als (unerwünschtes) Haustier, was sich quasi als Parasit in ein bestehendes Kommunikationssystem einnistet und sich von den bestehenden Erwartungsstrukturen ernährt, indem es diese zerstört und alle Aufmerksamkeit und Ressourcen für sich beansprucht.

In Teil 3 des Bandes mag es heißen: „Die nächste Fahrt geht rückwärts!“ oder auch „Wie lässt sich die Fahrt verlangsamen?“. Arist von Schlippe beschreibt eine Reihe von Ansätzen, Haltungen und Reflexionen zu einer systemisch orientierten Konfliktarbeit. In diesem Teil geht es weniger um Handwerkszeug, sondern um Denkwerkzeug und vieles handelt von persönlichem Erfahrungswissen des Autors. So mag sich denn Empörung da konstruktiv wandeln lassen, wo es um zugrunde liegende Werte oder Fragen nach Sinn und Funktion des Konfliktverhaltens geht. Hilfreich erscheint eine Haltung, nach der sich Konflikte nicht beherrschen oder managen lassen. Gleiches gilt für die Selbstarbeit an der eigenen Bewusstheit (consciousness raising), um einen Gegenpol zu den Konfliktautomatismen zu etablieren. Auch eine Trennung von Positionen und Interessen als eine der Kernideen des Harvard-Modells kann dazu beitragen, das Eskalationsgeschehen zu verlangsamen. Ebenso das Einnehmen von Außenperspektiven oder der Einbezug von bedeutsamen Dritten.

Nicht nur in diesem dritten Teil werden immer wieder kleine und größere methodischen Anregungen eingestreut – beispielsweise das Erwartungskarussell/Auftragskarussell, das reflektierende Team oder reflektierende Positionen, der Einbezug von „Zeugen“ im Elterncoaching, der Blick auf eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte und die Nutzung eines Zufallselements. Der abschließende vierte Teil enthält 10 Empfehlungen für den Umgang mit Konflikten.

Bei mir persönlich verbindet sich die Lektüre der Bücher und Texte von Arist von Schlippe immer wieder mit dem Gefühl, in einem seiner launigen Vorträge zu sitzen und fast beiläufig Neues und Vertrautes zu entdecken. Genauso geht es mir mit dem Karussell der Empörung: zurücklehnen, zuhören und genießen – wegträumen und anregen lassen. So ziehen theoretische Konzepte, die vielen Beispiele und Metaphern, kleinere und größere methodische Anregungen in einer gelungenen Mischung vorbei. Und nicht zu vergessen: die pointiert- witzigen Zeichnungen von Björn von Schlippe. Darin regt das „Karussell der Empörung“ gleichermaßen mit Leichtigkeit und Vehemenz zu etwas an, was wir uns in eskalierenden Konflikten wünschen: eine Rückkehr zur Selbstreflexion.

Andreas Klink (Essen)