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Digitale Medien und Neue Autorität

Martin A. Fellacher (2021). Digitale Medien und Neue Autorität: Kinder und Jugendliche in virtuellen Welten begleiten (Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 78 S..

In der Reihe „Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten“ beschäftigt sich Martin Fellacher damit, wie Kinder und Jugendliche in virtuellen Welten von Erwachsenen begleitet und unterstützt werden können. Dabei werden Begleitung und Unterstützung in diesem Feld allein deshalb schon zu einer Gratwanderung, weil insbesondere Jugendliche zumeist viel erfahrener im Umgang mit digitalen Medien sind als ihre erwachsenen Bezugspersonen. Wie also können und sollen Erwachsene hier unterstützend und hilfreich sein? Hier erweist sich das Konzept der Neuen Autorität als so etwas wie ein Königsweg, denn der Autor zeigt auf, wie sich vor allem auf der Grundlage eines Ansatzes zur „Wachsamen Sorge“ Handlungsoptionen im Umgang mit neuen Medien ergeben können. Im ersten Teil („Der Kontext“) wird zunächst anhand eines Fallbeispiels beschrieben, welche erzieherischen Herausforderungen die jugendliche Erstnutzung eines Smartphones mit sich bringt, wenn Eltern die Erfahrung machen, dass sie in der digitalen Welt zunehmend den Kontakt zum Alltag ihres Kindes verlieren. Im Anschluss daran werden einige Chancen und Risiken der Nutzung digitaler Medien dargestellt: angesprochen werden beispielsweise eine erhöhte Reichweite von medial geteilten Informationen, Vor- und Nachteile von Home-Schooling, die jederzeit und unabhängig von sinnvollen Altersbeschränkungen erreichbare Informationsvielfalt, eine zunehmende Orientierung an Multitasking sowie Möglichkeiten und Nachteile zunehmend anonymisierter und distanter Kommunikationsformen. Zudem geht der Autor hier auf die Bedeutung der „digitalen Revolution“ für die Rolle der Erziehungsverantwortlichen ein. Ein weiterer Abschnitt in diesem ersten Teil veranschaulicht die zunehmende Nutzung digitaler Medien durch Kinder und Jugendliche anhand von Studien und Zahlen beispielsweise zur Entwicklung des Gerätebesitzes und der Internetnutzung seit 1999. Aus einer theoretischen Perspektive wird Mediennutzung in Zusammenhang mit Schamregulation gebracht und kurze Abschnitte beschäftigen sich mit Untersuchungen zu Auswirkungen der Handy-Strahlung und mit möglichen neuen Störungsbildern im Kontext einer zunehmenden Mediennutzung. Der zweite Teil des Buches („Die systemische Beratung“) nutzt das Konzept der „Wachsamen Sorge“, um Eltern und anderen Erziehungsverantwortlichen Handlungsoptionen im Umgang mit der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen. Wachsame Sorge wird in die drei Stufen offene Aufmerksamkeit, fokussierte Aufmerksamkeit sowie Schutz und Intervention differenziert. Für jede der drei Stufen beschreibt Martin Fellacher eine Vielzahl an Möglichkeiten für ihre Umsetzung im Kontext von neuen Medien. Beispielsweise geht es in der ersten Stufe darum, wie Kinder auf den Umgang mit neuen Medien vorbereitet werden können und sich klare Vereinbarungen für die Nutzung treffen lassen. In der zweiten Stufe werden Handlungsoptionen wie fokussierte Interviews, alternative Freizeitanregungen, klare und transparente Verhaltensoptionen und -erwartungen sowie Unterstützung bei der Schamregulation thematisiert. Und für die dritte Stufe wird auf einseitige Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen und Formen des gewaltfreien Widerstandes eingegangen. Für alle drei Stufen werden praktische Methoden wie das Schreiben von Briefen und die Nutzung von Ankündigungen sowie das Körbemodell vorgestellt. Zudem illustrieren Fallbeispiele sowohl den jeweiligen Problemkontext als auch mögliche Handlungsoptionen und Lösungen. An einer Stelle benennt Martin Fellacher eine „Ent-Dämonisierung und Ent-Mystifizierung der digitalen Medien“ als wichtigstes Ziel dieses Bandes. Dies erscheint aus meiner Sicht gut gelungen. Immer wieder werden Bezüge zu nicht-virtuellen Welten hergestellt, die auf eine äußerst erfrischende Weise eine Normalisierung des Mediennutzungsverhaltens von Kindern und Jugendlichen mit sich bringen. Verallgemeinerungen werden vermieden und Mediennutzung wird auch immer in den Kontext vielfältiger anderer Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen gebracht. Darüber nimmt der Autor den neuen Medien ihren Schrecken und eröffnet Erwachsenen – auch „digitalen Analphabeten“ – viele Möglichkeiten und Chancen für eine erhöhte Handlungsfähigkeit und Präsenz im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, deren Medienverhalten mehr oder minder besorgniserregend erscheint. So nehme ich dann nach der kurzweiligen Lektüre einmal mehr den Eindruck einer sehr gelungenen, höchst informativen und anregenden Annäherung an ein scheinbar altbekanntes und vertrautes Thema mit in meinen weiteren Beratungsalltag.

Andreas Klink (Essen)