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Ich hätte da noch eine Idee …

Jochen Schweitzer (2022). Ich hätte da noch eine Idee … Persönliche Geschichten aus 45 Jahren Systemischer Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 242 S.

Inzwischen ist es ein Jahr her, dass Jochen Schweitzer mit 68 Jahren viel zu früh verstorben ist. In diesem Buch hat er – wie im Titel beschrieben – seine persönlichen Geschichten aus 45 Jahren intensiver systemischer Forschung und Praxis zusammengetragen und uns damit einen wunderbaren Schatz voller Anregungen und Ideen hinterlassen. Die Abfolge der
Kapitel ist chronologisch und richtet sich an den einzelnen Lebensabschnitten des Autors aus. Viele Abschnitte fassen Artikel und andere Beiträge in ihren heute wesentlich erscheinen Aspekten zusammen. Damit öffnet sich der Blick sowohl für den persönlichen als auch den thematischen Werdegang von Jochen Schweitzer. Studien bei Salvador Minuchin, dem
Begründer der strukturellen Familientherapie, die Aufnahme als Zivildienstleistender an der Klinik in Heidelberg, eine erste Publikation mit Gunthard Weber zur Familienskulptur, der Theorieschritt von der Kybernetik erster Ordnung zur Kybernetik zweiter Ordnung, die Arbeit mit Jugendlichen oder im Kontext von systemischer Kinder- und Jugendpsychiatrie,
systemtherapeutische Methoden psychiatrischer Akutversorgung (SYMPA) bis hin zur medizinischen Organisationspsychologie in Heidelberg – zu all diesen Stationen erfahren die Leser*innen sowohl persönliche Geschichten und Einschätzungen als auch theoretische und methodische Erläuterungen, die ihren Bezug zu aktuellen Fragen keinesfalls verloren haben.

Beispielsweise lassen sich auch heute noch Situationen beschreiben, in denen ein aufeinander bezogenes „Spiel“ von Familien und Beratungsinstitutionen Veränderungen eher verhindern. Und die Frage, wie Kooperation in psychosozialen Berufen lohnenswert gemacht werden kann, erscheint mir auch heute noch eine der wesentlichen Ansatzpunkte für hilfreiche und erfolgreiche Beratungsprozesse zu sein. In ähnlicher Weise halte ich eine Beschäftigung mit einer (verstärkten) Kundenorientierung als Dienstleistungsphilosophie aktueller denn je – insbesondere dort, wo Beratungsleistungen durch Dritte angeboten und finanziert werden. Dies schließt selbstverständlich ein, dass man die Kund*innen auch dazu ermächtigt und dass beispielsweise in der Arbeit mit Familien Hilfe und Kontrolle deutlicher voneinander getrennt werden. Gerade in den letzten Monaten war und ist dies ein brandaktuelles Thema in unserer Jugendhilfeeinrichtung. Ähnliches gilt für die Frage, inwieweit Leitungskräfte an Teamsupervisionen teilnehmen oder nicht, die damit m. E. auch eine Beschäftigung mit der Funktion von Supervision einschließt – jenseits von „Opium für das Volk“.

Mit Blick auf die Entwicklung und Professionalisierung des Systemischen berühren einzelne Kapitel immer wieder besondere Meilensteine. Dazu zählt der Heidelberger Kongress 1991, der das Ende der großen Entwürfe zugunsten vieler gleichrangiger individueller Wahrheiten markierte. Darunter fällt die Entwicklung einer systemisch geprägten Akutpsychiatrie im Rahmen des Projektes SYMPA. Dazu gehört die Beschäftigung mit der Wirksamkeit Systemischer Therapie und damit, wie man das beforschen kann. Im Anschluss daran der längere Weg zur Kassenfinanzierung mit den vielfältigen Ansätzen, die Evidenz Systemischer Therapie auch in der im scheinbar fremden System gültigen und anerkannten Sprache darzustellen. Nicht zu vergessen sind die beiden Lehrbücher zur systemischen Therapie und Beratung, in denen Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe zunächst über vier Jahre das seinerzeit gesammelte Wissen zusammentrugen und es in einer so anschlussfähigen Weise präsentierten, dass auch Externe auf diese gar nicht mehr so junge Therapie- und Beratungsform aufmerksam wurden. Immer noch mit Blick auf die Professionalisierung des Systemischen wird deutlich, dass sowohl die Erweiterung des systemischen Ansatzes auf eine Fülle von Kontexten jenseits der Beratung von Familien (Band 1) als auch die Beschäftigung mit seinerzeit sehr kontrovers diskutierten störungsspezifischen Ansätzen (Band 2) wesentlich zu dieser Professionalisierung beigetragen haben. Dies gilt nicht zuletzt dann auch für die 11-jährige Tätigkeit Jochen Schweitzers als Herausgeber der Zeitschrift Psychotherapie im Dialog.

Sowohl die Lehrbücher als auch die Herausgeberschaft weisen zudem auf seinen Beitrag für die große Verbreitung des Systemischen hin. Dafür sprechen auch jene Geschichten über die Gründung des Helm Stierlin Instituts und die Zeit der Vorstandstätigkeit in der DGSF (Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie), die mit einer annähernden Verdopplung der Mitgliederzahl und bis heute bedeutsamen strukturellen Veränderungen des Verbandes einherging. Zu allen bislang genannten Themenfeldern finden sich in dem Buch sowohl äußerst anregende Reflexionen als auch Methoden und Konzepte. Zusätzlich widmet sich ein eigenes Kapitel dem systemischen Handwerkszeug für die Praxis.

Die Themen der letzten Jahre entspringen dann den Aufgabenfeldern der heutigen AG Medizinische Organisationspsychologie im Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg. Auch diese erscheinen in ihren Kernaspekten heute aktueller denn je und münden in Fragen wie: Wo wird Wertschätzung im Arbeitskontext erfahrbar zwischen Rolle und Funktion auf der einen sowie Person und Persönlichkeit auf der anderen Seite? Wie gelingt ein guter Umgang mit Zeitdruck am Arbeitsplatz? Was braucht es insbesondere in mittleren Führungsebenen an Dilemmakompetenz und wie lässt sie sich vermitteln? Wie kann man in seinem Betrieb gut alt werden? Und wie gelingt es einem Unternehmen angesichts des demografischen Wandels und veränderter Werte auch für junge Fachkräfte attraktiv zu bleiben oder es erst zu werden? Welche Beratungsangebote braucht es in Betrieben für Herausforderungen, wie die Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz, den Umgang mit Konflikten oder zunehmenden Wechsel und Wandel in dem Teams? Neben jenen Themen, mit denen die meisten Leser*innen Jochen Schweitzer wohl verbinden, finden sich dann auch noch kleine thematische Inseln, wie beispielsweise die Beratung im Kontext von Lebendorganspenden, Interviews zu Unterschieden zwischen Aus- und Übersiedlerfamilien, Notfallpsychotherapie mit geflüchteten Menschen, Beiträge zur systemischen Psychotherapieausbildung in China oder Reflexionen zu Konzepten gemeinwesenorientierter gegenüber sozialtherapeutischen Ansätzen. Zum Abschluss formuliert Jochen Schweitzer dann noch einige lohnenswerte zukünftige Herausforderungen: die weitere Qualifizierung systemischer Therapeut*innen, Berater*innen oder ganzer Einrichtungen, eine gleichmäßigere Verteilung der Arbeit auf die Lebensspanne, beobachtbare Kompetenz- und Qualifizierungsunterschiede zuungunsten von jungen Männern, ein Schrumpfen der traditionellen Mittelschicht und eine Zunahme von Konflikten in postmigrantischen Gesellschaften.

Was bleibt abschließend zu sagen? Zum einen wird in diesem Buch die Bandbreite des Schaffens von Jochen Schweitzer mehr als deutlich und auch so etwas wie thematische Klammern seines Werkes. Und zum anderen gibt der Autor sehr persönliche Einblicke in eine Karriere, die von außen wie geplant – fast gemalt – erscheint und gleichzeitig illustriert, dass vieles sich aus Zufälligkeiten oder Gelegenheiten ergeben hat, die ihn zur richtigen Zeit an den richtigen Ort gebracht haben. Am Ende der Lektüre liegt hier bei mir eine lange Liste von Themen, Artikeln und Konzepten, mit denen ich mich unbedingt noch weiter beschäftigen möchte – wenn die Zeit es zulässt. So trägt dieser kleine Band von Jochen Schweitzer dazu bei, die Haltung „Ich hätte da noch eine Idee …“ in den Köpfen und Herzen der Leser*innen fortleben zu lassen. Und irgendwie regt er dazu an, sich auch damit zu beschäftigen, dass Zeit aus einer bestimmten Perspektive doch endlich sein wird, wenngleich der Ideenreichtum und die Anregungen von Jochen Schweitzer eher so etwas wie Unendlichkeit vermitteln.

Andreas Klink (Essen)

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