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Mitschwingen und Dazwischengehen

Mechtild Erpenbeck (2022). Mitschwingen und Dazwischengehen. Systemisch-gruppendynamische Prozesskompetenz in Beratung und Training. Heidelberg: Carl-Auer, 184 Seiten.

Im Titel und Untertitel des Buches von Mechtild Erpenbeck wird schon jener Raum geöffnet, in dem sich die Autorin dann über insgesamt 13 Kapitel bewegt. Es geht um jenen Tanz um Macht und Vertrauen, der in systemischen Beratungs- oder Supervisionsprozessen mit Gruppen so häufig spürbar ist und der sich auf der Ebene von Interventionen zwischen den Polen Dazwischengehen und Mitschwingen bewegt. Dabei beschäftigen sich die ersten Kapitel zunächst mit den Phänomen Gruppe und mit hilfreichen Kompetenzen von Beratenden. Die Arbeit mit Gruppen wird nachvollziehbar als kollektiver Tanz beschrieben, der sich jeweils aus einer einzigartigen und nicht vorhersehbaren Choreografie genau im jeweiligen Moment ergibt. Und Beratende sind Teil dieser Choreografie und dürfen es sich erlauben, auf im Voraus geplante detaillierte Regieanweisungen zu verzichten. Vielmehr sollten sie dafür bereit sein, im jeweiligen Moment Hypothesen zu entwickeln und der Gruppe zur Verfügung zu stellen.

Und um dafür bereit zu sein, lohnt sich zum einen der von der Autorin gewählte Ausflug in die einen oder anderen theoretischen Gefilde über Gruppen und ihre Unterscheidbarkeiten sowie mögliche Auftragskonstellationen in der Arbeit mit Teams. Zum anderen entführt Mechtild Erpenbeck ihre Leser*innen in das oft stürmische Land der Prozessdynamik von Gruppen (Kapitel 3), in dem Beratende immer darin gefordert sind, zwei Ebenen gleichzeitig im Blick zu haben: die vermuteten Motive und Beweggründe der einzelnen Personen und ihre dyadischen Dynamiken und eine Gruppenprozessebene, die sich jenseits der sprachlich vermittelten Inhalte in Körpersprache und Atmosphäre manifestiert. Damit dies gelingt, braucht es die Reflexion darüber, wie sich meine eigenen Wahrnehmungen auf mein Handeln auswirken mögen. Hier vermittelt die Autorin einige hilfreiche Metaphern, mit denen sich die eigene Prozesskompetenz beschreiben und vertiefen lässt. Darüber hinaus darf es in der Arbeit mit Gruppen nicht an emotionaler Kompetenz fehlen (Kapitel 4) – also an einer Bereitschaft, mit Gefühlen als wichtigen Transmittern der Resonanz umzugehen, sie wertschätzend zu behandeln, sie als Ressource zu sehen und das Affektgeschehen der gesamten Gruppe im Blick zu behalten.1

Im weiteren Verlauf der Kapitel nähert sich der Autorin aus unterschiedlichen Perspektiven der Arbeit mit Gruppen. Beispielsweise verdeutlicht ein Blick auf die besondere Bedeutung von Anfängen (Kapitel 5), dass zu Beginn der gemeinsamen Arbeit schon in der Vorstellungsrunde Standards gesetzt werden und Erwartungs-Erwartungen eine große Rolle spielen. Eigene Unsicherheiten und vermutliche Wirkungen zu reflektieren und gleichzeitig nicht den Kontakt zur Gruppe zu verlieren, stellt sich in dieser sensiblen Phase als erste große Herausforderung für Beratende dar. Im Anschluss geht es darum, Prozessdynamiken zu „lesen“ (Kapitel 6). Hier stellt Mechtild Erpenbeck eine Reihe von Folien zur Verfügung, mit denen sich Prozessdynamiken sowohl aus gruppendynamischer als auch aus systemischer Sicht betrachten lassen. So zeigen sich im Gruppengeschehen menschliche Grundmuster beispielsweise des Wachsens und Vergehens, von Zugehörigkeit und Autonomie, von Differenzierung und Integration, von Fliehkraft und Schwerkraft, die sich als Spannungsfeld begreifen lassen, was immer wieder neu austariert werden muss. Aus einem anderen gruppendynamischen Blickwinkel repräsentieren Zugehörigkeit, Macht und Intimität jene Dimensionen des sozialen Raumes, in dem sich Menschen in der Gruppe miteinander bewegen.

Systemische Perspektiven auf Prozessdynamiken fußen auf der Synergetik und auf systemischen Strukturaufstellungen. Erstere kann Erklärungen dazu bieten, wie im Gruppengeschehen Werte, Normen und Attraktoren plötzlich und unerwartet entstehen (emergieren) und in der Folge Ordnungsfunktionen ausüben. Letztere enthalten Grundannahmen über Systemdynamiken, die auch für die Arbeit mit Gruppen nutzbar sind – beispielsweise ein postuliertes Recht auf Zugehörigkeit oder ein konstatierter Vorrang des Früheren vor dem Späteren. Eine letzte Folie für Prozessdynamiken in Gruppen findet sich im Konzept der Rolle, hier u. a. verstanden als Ordnungselemente zur Reduktion von Komplexität. Funktionen wie Führen, Folgen und Opponieren können als einfaches Modell für Rollenverhalten in Gruppen gelten, ergänzt durch eine Vielzahl möglicher anderer Rollendifferenzierungen. Jenseits von Rollenbenennungen erscheint es für Beratende sinnvoll, zu beobachten und zu reflektieren, wie Rollen aus einem situativen Zusammenspiel der Systemelemente heraus entstehen. Insbesondere in diesem sechsten Kapitel des Buches unterstützen hilfreiche Fragen und Anregungen die eigene Reflexion zu den genannten Themen.

Kapitel 7 beschäftigt sich mit den Grundlagen von Interventionen in Gruppen. Als Betrachtungsfolien für hilfreiche Interventionen dienen hier u. a. die Tragfähigkeit der Beziehung, das Timing der Intervention, Fokus, Ebene und Intensität der Intervention und die vorhandenen Veränderungsmöglichkeiten. In Kapitel 8 geht es um die Anschlussfähigkeit von Beratenden und unter welchen Perspektiven sie sich reflektieren lässt. Basisannahme hier ist, dass Interventionen dann erfolgreicher sind, wenn die ihnen inhärente Verstörung anschlussfähig ist. Faktoren, die eine Anschlussfähigkeit von Beratenden und ihren Interventionen wenig positiv beeinflussen können, sind zum einen eigene Gefühle, Werte, Themen oder Haltungen, die als „Trigger“ wirksam werden. Die eigenen Haltungen zu kennen und Hypothesen über mögliche Ergebnisse von Interventionen zu formulieren, können wiederum hilfreich für eine Herstellung von Anschlussfähigkeit sein.

Kapitel 9 widmet sich dem Thema Macht, hier erst einmal verstanden als Möglichkeiten eines handelnden Subjektes, zu gestalten und Wirkung zu erzielen – und darin abgegrenzt gegenüber Phänomenen wie Gewalt oder Zwang. Dabei wird Macht aus der Perspektive von Systemtheorien und verwandten Ansätzen als komplexes Beziehungsgeflecht begriffen und sie zirkuliert eher, als dass sie von wenigen Systemmitgliedern besessen wird. Mehr noch: in diesem Ansatz dient Macht der Komplexitätsreduktion, hat darin eine systemische Funktion für Gruppen und muss nicht als positiv oder negativ bewertet werden. So betrachtet, lässt sich ihr Vorkommen in Gruppenprozessen erwarten und es lohnt sich ein wertschätzender und neugieriger Blick auf das Thema Macht in Gruppen. Interessant ist hier ein kleiner Exkurs zu agilen Teams, in denen hierarchische Strukturen durch Verhaltensregeln und soziale Normen ersetzt werden. Damit verliert sich keinesfalls die Bedeutung von Macht. Als theoretische Folien für den Umgang mit Macht in Gruppen bietet die Autorin die Konzepte Widerstand und Autoritätskonflikt an – inklusive einer Differenzierung von kreativen Abwehrmechanismen.

Kapitel 10 beschäftigt sich mit dem Thema Konkurrenz als allgegenwärtiges Gegengewicht zu Ideen von Gemeinschaft oder Teamgeist. Als bislang eher selten genutzte Perspektive dient hier jene von Unterschieden zwischen den Geschlechtern. So lassen sich Konkurrenzkontexte unter Männern anders beschreiben als jene zwischen Männern und Frauen oder zwischen Frauen und Männern – oder gar im Unterschied zur Konkurrenz von Frauen mit anderen Frauen. Im anschließenden Kapitel 11 geht es um das Thema Vertrauen als reziproker Prozess und als zweite wesentliche Leitgröße für soziale Systeme neben der Macht. Grundsätzlich wächst in Gruppen Vertrauen u. a. in dem Maße, in dem ein (persönliches) Wagnis eingegangen wird. Geschieht dies nicht durch Gruppenmitglieder, können Beratende selbst einen Vertrauensschritt wagen, beispielsweise indem sie etwas veröffentlichen, was allgemein als Schwäche, Verwundbarkeit oder Versagen gilt. Zudem kann Vertrauen im Rahmen von Feedback entstehen und zunehmen. Ein kleiner Exkurs zum Begriff Authentizität illustriert, dass Beratende dann als vertrauenswürdig gelten mögen, wenn sie sich treu bleiben und einhalten, was sie angekündigt haben.

Kapitel 12 beschäftigt sich mit Abschieden und paradox anmutenden Abschiedsmustern in Gruppen, die es zu wertschätzen gilt (z. B. Streit anzetteln oder in der Abschiedsrunde ein neues und sehr bedeutsames Anliegen vortragen). Kapitel 13 wirft einen abschließenden Blick auf die Zusammenarbeit in Gruppen und Teams und beschreibt Konstellationen, unter denen Gruppenleistungen Einzelleistungen übertreffen können, und solche, unter denen Gruppenleistungen sogar schlechter werden. Ein wesentlicher Unterschied stellt hier die Prozesskompetenz der Mitglieder dar.

Mechtild Erpenbeck wagt einen gleichermaßen vielfältigen wie hinreißenden Blick auf das Prozess- und Affektgeschehen in Gruppen und die korrespondierenden kognitiven und emotionalen Vorgänge bei Berater*innen. Für Letztere eröffnet sie ein Spannungsfeld zwischen Mitschwingen und Dazwischengehen, in dem ein riesiger Raum für Kreativität, für neue Prozess- und Handlungskompetenzen und für eine differenzierte Reflexion des eigenen Handelns entsteht. Dabei stellt die Autorin sowohl für das Mitschwingen als auch für das Dazwischengehen eine Vielzahl von theoretischen Konzepten und methodischen Herangehensweisen zur Verfügung. Letztere werden vor allem durch anschauliche Beispiele aus ihrer reichhaltigen Beratungspraxis illustriert. Die schon reichhaltigen Hauptstränge der einzelnen Kapitel werden durch die stattliche Zahl von insgesamt 135 Fußnoten um zahlreiche Nebenschauplätze ergänzt, die an der einen oder anderen Stelle zum längeren Verweilen einladen. Methodisch bewegt sich Mechtild Erpenbeck sowohl auf dem Parkett der Gruppendynamik als auch auf jenem systemischer Ansätze. Dabei nutzt sie immer wieder Metaphern aus dem Tanz und der Schauspielerei und ihre Ausführungen lesen sich an vielen Stellen wie eine jener guten Geschichten, die uns immer zu neuen Perspektiven einladen und bei denen wir von der ersten Minute gespannt bleiben, wie sie wohl ausgehen werden.

Andreas Klink (Essen)