Liebe Leser*innen,
drei Jahre voller Krisen liegen hinter uns, Gewohntes, Bewährtes, auch Liebgewonnenes wurde und wird weiterhin auf den Prüfstand gestellt. Vieles ist nach wie vor in Unruhe, und der Krieg in der Ukraine dauert an. Eine Folge: Irritationen und Verunsicherungen, Erschütterungen und Verletztheiten, spürbar und sichtbar sowohl in persönlichen Refugien als auch auf der großen Bühne der Welt. Und gleichzeitig ist da diese erstaunliche Kraft des Menschen, das beständige Vertrauen in andere, in das Leben und der Zauber der Zuversicht. Welch bewegende Zeiten!
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, ein Heft mit dem Themenschwerpunkt Emotionen zu kreieren – ein Thema, dessen Bedeutung für die systemische Praxis unbestritten und unerschöpflich erscheint. Emotionen sind Lebenselixier und für Hartmut Rosa bedeutsam für Resonanz, eine anzustrebende Form der Weltbeziehung, in der Menschen sich tief berührt, bewegt und verbunden fühlen. Im Rahmen von Prozessen, so meine Beobachtung, kann dies in der Selbstbegegnung, in der Begegnung untereinander und in der Begegnung mit Prozessgestalter*innen geschehen. Es lohnt sich also, all diese Ebenen in den Blick zu nehmen und einmal mehr den Fragen nachzugehen: Welche Bedeutung haben Emotionen für die systemische Praxis? Worauf können wir als Prozessgestalter*innen achten? Und welche (kreativen) Zugänge haben sich bewährt bzw. bieten neue Möglichkeiten?
Im Interview spricht Luc Ciompi über die Weltlage, seine Theorie der Affektlogik und deren Relevanz für systemische Prozessgestaltung. Das Zusammenwirken von Fühlen, Denken und Handeln sollte seiner Ansicht nach mehr Beachtung finden – und besonders die zentrale Bedeutung von Emotionen. Anschaulich führt er hierbei aus, wie sehr wir auch durch kollektive Emotionen beeinflusst werden.
Mechtild Erpenbeck wendet sich im ersten Originalbeitrag der Bedeutung und Wirkmacht von affektiver Kommunikation in der Arbeit mit Gruppen zu. Den Umgang mit Emotionen stellt sie als diffiziles und anspruchsvolles Unterfangen heraus und nimmt dabei besonders die Rolle und Verantwortung der Professionellen in den Blick: Kontaktkompetenz sei hier ebenso hilfreich wie Prozesskompetenz, um bewusst und gelingend „navigieren“ zu können. Der zweite Originalbeitrag von Michael Müller befasst sich mit narrativen Zugängen in der Organisationsentwicklung. Stories dienten als Türöffner zu Emotionen, ohne die Veränderung seines Erachtens nicht gelingen kann, was er in Praxisbeispielen verdeutlicht. Das Zuhören (Storylistening) sei dabei ebenso wichtig wie das Erzählen (Storytelling) selbst. Und weiterhin stellt er klar: erst wenn sich möglichst viele Mitarbeitende beteiligt fühlen (Story-Co- Creation), entstehen Geschichten, die emotional berühren und neue Möglichkeiten eröffnen. Im dritten Originalbeitrag setzt sich Michael Raisch mit der Bedeutung von Emotionen als transformative Kraft in systemischen Therapie-Prozessen auseinander. Ausgehend von der Kritik an einer zu starken Lösungsfokussierung in der systemischen Praxis plädiert er für die Integration emotionsbasierter Verfahren und erlebnisorientierter Methoden als Schlüssel für nachhaltige Veränderungen. Auch er ermöglicht einen Einblick in die eigene Praxis.
Der Impuls von Stefanie Neubrand stellt Impathie – nach innen gewandte Empathie – als eine menschliche Fähigkeit heraus, durch bewusste Anteilnahme angemessener und authentischer auf eigene Gefühle zu reagieren. Mit Blick auf die noch junge Impathie-Forschung verweist sie auf das gesundheitsfördernde Potenzial und die Bedeutung für Resilienz. In Beispielen aus der eigenen therapeutischen Praxis stellt sie gezielte Interventionen vor, die Impathie ermöglichen und fördern.
Birte Lange macht in ihrem Erfahrungsbericht deutlich, welch besondere Bedeutung Emotionen in der Beratungsarbeit mit geflüchteten Menschen haben. So gehe es einerseits darum, diesen Personen in Ausnahmezuständen genügend Raum für Gefühle einzuräumen, anderseits den Umgang mit den eigenen Emotionen professionell zu gestalten – und im günstigen Fall in etwas Produktives zu transferieren. Gudrun Gauda berichtet über die Kraft der Gefühle im therapeutischen Puppenspiel mit Kindern und Eltern, indem sie detailreiche Einblicke in ihre Erfahrungen und konkrete Praxis gibt. Die besondere Verbindung von Kunst und Therapie, wie sie es nennt, erlaube einen unmittelbaren Zugang zu verborgenen Gefühlswelten und das spielerische Erleben neuer Möglichkeiten und Potenziale.
Die Beiträge enden mit einem Gedicht von Guilhem Fabre, in welchem er sich mit dem Schicksal seines kranken Sohnes auseinandersetzt: poetisch, berührend, eindrücklich. Vielen Dank an Haja Molter für die Initiative und Karin Schuh für die Übersetzung.
Ich wünsche Ihnen eine bewegende Lektüre und grüße Sie herzlich
Kerstin Schmidt
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