systhema blog

Vorwort zur systhema 2-22

Liebe Leser:innen der systhema,

inzwischen dauert der Krieg in der Ukraine mehr als 100 Tage an. Für viele von uns galt es bis dato als undenkbar, dass wir solche Zeiten miteinander erleben. In der Vorbereitung dieser systhema habe ich mich gefragt, ob und wie der Krieg und seine Begleiterscheinungen unseren systemischen Alltag beispielsweise in Beratung, Therapie, Coaching oder Supervision verändern. In meiner beruflichen Praxis in der Jugendhilfe und diversen Netzwerken haben wir festgestellt, dass bei unseren Klient:innen Gefühle von Angst, Unsicherheit und Kontrollverlust zunehmen. Für solche Themen können wir als Systemiker:innen sicherlich eine Menge an methodischen Angeboten zur Verfügung stellen.

In meiner beruflichen Praxis stellen wir weiterhin fest, dass Unterschiede gemacht werden zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und solchen aus anderen Regionen dieser Welt.
Sprachlos macht mich ein Kommentar der bayerischen Integrationsbeauftragten, die in
einem Interview Unterschiede benennt, die vorhandene negative Stereotype bedienen. Wiederum andere Kolleg:innen berichten von massiven Abwertungen gegenüber Menschen,denen eine russische Herkunft zugesprochen wird. Was verändert der Krieg also an unseren Haltungen und Werten?

Laden uns diese Kriegszeiten jetzt häufiger dazu ein, Position zu beziehen? Können wir uns weiterhin in Perspektivenvielfalt üben? Oder liegt es nicht näher, die Welt vermehrt in schwarzweiße Kategorien einzuteilen – hier die Kriegstreiber und dort die Friedensstifter? An welchen Stellen verändern sich Haltungen, wenn es auch darum geht, sich für oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine zu entscheiden? Wem gilt in diesen Tagen noch unsere allparteiliche Wertschätzung? Und wem kündigen wir sie auf? Vertrauen wir weiterhin auf autopoietische Lösungen oder braucht es nun eher Haltungen, die mit einem Gefühl von Kontrollierbarkeit einhergehen und aktive Kontrollbemühungen unterstützen? Laden diese Zeiten dazu ein, auch im Beratungsalltag früher und deutlicher Grenzen zu ziehen? Geht es in Teams nun weniger darum, miteinander Regeln zu entwickeln, an die sich alle halten können? Begünstigen diese Zeiten eine Fokussierung auf die großen und existenziellen Themen? Welche anderen Themen verlieren dann an Bedeutung? Treten dort, wo Unterschiede gegenüber anderen betont werden, umso mehr Gemeinsamkeiten unter denen in den Vordergrund, die in unserer Wahrnehmung dazugehören? Rücken wir also in diesen Wochen und Monaten nach innen näher zusammen?

Diese systhema wird möglicherweise wenige oder keine Antworten auf diese Fragen geben. Vielmehr bietet sie Ihnen und euch ein breites Spektrum an Beiträgen an, die hoffentlich zum Weiterdenken und Anwenden anregen. Leider beginnt sie mit einem traurigen Anlass. Anfang Mai verstarb Gesa Jürgens, eine Kollegin aus der Gründergeneration des IF Weinheim. Cornelia Hennecke hat ihr einen vielstimmigen und berührenden Nachruf gewidmet und dazu einige Stimmen der Erinnerungen aus dem Weinheimer Haus zusammengetragen. Mein eigener Beitrag beschäftigt sich mit ausgewählten theoretischen Konzepten zu den Themen Migration, Identität und Resilienz. Julia Koch beschreibt aus ihrer Sicht als Psychologin Chancen und Herausforderungen im Alltag der stationären Kinder- und Jugendhilfe u. a. mit Blick auf systemische Haltungen, Auftragsklärung und eine Transparenz von Regeln und Anforderungen. Kat Feyrer plädiert für eine diskriminierungssensible systemische Haltung und Praxis, welche die eigene Eingebundenheit in gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert und soziale Positionierungen mitdenkt. Matthias Bartscher stellt den Ansatz zur Motivierenden Gesprächsführung vor und beschreibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Methoden und Haltungen Systemischer Beratung. Imke Urmoneit beschäftigt sich mit Verbindungen zwischen systemtheoretischen Konzepten wie Selbstreferentialität, Komplexitätsreduktion oder Kontextabhängigkeit und Erkenntnissen der Neurobiologie. Daniel Rausch widmet sich dem Buch als therapeutischem Medium und berichtet von der Anwendung einer bibliotherapeutischen Methode in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung. Christian Philipp Nixdorf und Jana Swiderski benennen und reflektieren Gründe dafür, warum eine systemische Haltung Berufsberatenden dabei hilft, ihre Beratungsarbeit hilfreich, erfolgreich und nachhaltig zu gestalten. Neben den genannten Beiträgen enthält diese systhema zudem einige Rezensionen und einige Neuigkeiten aus den Weinheimer Institutionen.

Ich wünsche Ihnen und euch eine anregende Lektüre und eine gute und friedliche Zeit.


Andreas Klink

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