Liebe Leserinnen und Leser,
dieses systhema-Heft fällt ein bisschen aus dem Rahmen, weil wir es einigen Erfahrungsspuren in der Zusammenarbeit mit Gesa Jürgens widmen. Sie gehörte 1975 mit zu den Gründerinnen des Instituts für Familientherapie Weinheim e.V. und prägte von 1975 und bis 2008 als Mitglied des Dozententeams am IF Weinheim das Institutsprofil und die didaktische Arbeitsweise in Weiterbildungen wesentlich mit. Am 3. Mai 2022 ist sie verstorben – und ist doch für viele Menschen, die mit ihr gearbeitet und mit oder von ihr gelernt haben, noch „unter uns“.
Von persönlichen Begegnungen und prägenden Lernerfahrungen berichten die meisten Beiträge in diesem Heft. Die Autorinnen und Autoren zeichnen ein facettenreiches Bild, wie Gesa mit ihrer unverwechselbaren Handschrift durch ihre Arbeitsweise zu persönlichem Wachstum und professioneller Weiterentwicklung beitragen konnte. Zudem schien es zu ihrem Stil zu gehören, zu unterschiedlichsten Menschen in vielfältigen Rollen und verschiedensten Interessen ganz unkonventionell in Kontakt zu treten, diese Menschen wiederum zu vernetzen und selbst entstandene Kontakte über lange Zeit lebendig zu halten. So wird sie in den Beiträgen nicht nur als Familientherapeutin und Dozentin sichtbar, sondern auch als Person, als politisch engagierte Frau, als Liebhaberin der Natur, als Freundin.
Unser Anliegen mit diesem Heft geht jedoch noch einen Schritt darüber hinaus. Gesa schilderte die Begegnung mit Virginia Satir bis zuletzt als eine besondere und für die Entwicklung ihres eigenen Profils und ihrer Arbeitsweise nachhaltig prägende Erfahrung. Sie gehörte 1975 als Teilnehmerin zu einer Gruppe interessierter Kolleginnen und Kollegen, die Virginia Satir nach Deutschland eingeladen hatten, um ihre, damals noch völlig ungewöhnliche, entwicklungsorientierte familientherapeutische Arbeitsweise mit ganzen Familien in einem speziell dafür von ihr entwickelten Ausbildungskurs kennenzulernen.
So erzählte sie gern die Geschichte, dass sie Virginia Satir vor großem Publikum einmal gesagt habe, dass sie ihre Arbeit sehr schätze, viel gelernt habe, aber sicher auch einiges anders sehen und machen würde, weil sie eben ein anderer Mensch sei. Dies scheint mir aus heutiger Sicht genau das, wofür Virginia sich selbst sehr eingesetzt hat, und in Gesas Arbeitsweise blieb bei allem Hinzugefügten eine tiefe Verbundenheit mit den Grundideen des entwicklungsorientierten Ansatzes von Virginia Satir immer wieder erkennbar.
Vielleicht machte ja Virginia Satir damals gerade auch als weibliche, unkonventionell und beziehungsengagiert mit Herz und Hirn arbeitende Fachfrau einen Unterschied, der einen Unterschied auch für deutsche Kolleginnen und Kollegen machte? Aus heutiger Sicht scheint jedenfalls soviel Energie entstanden, dass die Weinheimer Frauen der ersten Stunde diese Energie auf durchaus unterschiedliche Weise für die Entwicklung ihrer professionellen Autonomie als systemische Therapeutinnen nutzten wie auch die „Frauen-Power“ (ein Lieblingsbegriff von Gesa) sie auch gleich noch zur Institutsgründung anspornte. Dann natürlich auch in Kooperation mit männlichen Kollegen entstanden so seit 1975 wichtige Grundorientierungen für die Konturen und die didaktische Gestaltung der Weiterbildungen am IF Weinheim, die bis heute zählen und beharrlich gepflegt und weiterentwickelt werden. Beispielhaft sei genannt, dass schon Virginia Satir es für unverzichtbar hielt, dass angehende Familientherapeut* innen möglichst viel direkte Felderfahrung mit Familien sammeln. Ebenso betonte sie die Notwendigkeit, sich mit der eigenen Familiengeschichte ausführlich auseinanderzusetzen. Ihre entwicklungsorientierte Arbeitsweise in therapeutischen Prozessen und in den Seminaren förderte eine ganzheitliche Erfahrungs- und Lernebene.
Gesa meinte zu den Anfängen des Weinheimer Teams einmal: „Ich glaube, dass wir damals die Kraft hatten, uns zu lösen von den Verführungen eines grenzenlosen Wachstums. Wir haben uns auf einen intensiven und aufeinander bezogenen Prozess der Erfahrungsbildung orientiert. Unsere eigene Fortbildung hatte einen hohen Stellenwert und wir haben dabei auch die Bezüge zu unseren eigenen Familien hergestellt.“ (systhema 2/2007, S. 173)
Während ich dies alles schreibe, entsteht bei mir ein inneres Bild einer Generationenfolge meiner systemischen Vorfahrinnen: Gesa steht hinter mir und schaut mir über die Schulter. Hinter ihr lugt Virginia Satir wiederum ihr über ihre Schulter. Beide schmunzeln, wenn sie mich hier schwitzen sehen bei dem Versuch, die Beiträge und ein paar Aspekte vom WAS und WIE ihrer Arbeitsweisen in ein Format zu bringen, das für unsere kleine Fachzeitschrift angemessen ungewöhnlich ist. Gesa höre ich sprechen, da ich ihre Stimme viele, viele Jahre immer wieder an meiner Seite hatte:
„Conni, sei mutig, brich ruhig mal die Regeln, wenn es denn dazu beiträgt, das, was dir und anderen wichtig ist, aufrichtig in die Welt zu tragen, ohne anderen Menschen zu schaden. Ich konnte das meist durch meine praktische Arbeit besser zeigen als davon zu schreiben. Um so schöner, wenn einige von euch versuchen, Worte für das Erfahrene und Erlebte in unserer Zusammenarbeit zu finden und das weiterzugeben. Möge es auch die jungen Kolleginnen und Kollegen ermutigen, ihren Weg und die für sie passenden Arbeitsweisen herauszufinden und dabei sehr aufmerksam dafür zu sein, sich mit anderen zu verbinden und Fremdes als Chance zum Lernen zu verstehen. Und wenn es dabei auch um ‚Frauen-Power‘ geht … das freut mich natürlich besonders!“
Wegen dieser Vorfahren-Verbindung zwischen Virginia Satir und Gesa Jürgens freuen wir uns sehr, dass die Redaktionsmitglieder der Familiendynamik einer Wiederveröffentlichung des Beitrages „Virginia Satir. Das bleibt!“ unserer Kollegen Haja Molter und Michael Grabbe in der Familiendynamik Heft 4/2014 zugestimmt haben.
Gerade in diesen gegenwärtig herausfordernden Zeiten stelle ich mir vor, dass Gesa es sehr unterstützen würde, mit Alten und Jungen, mit den so und den anders Denkenden, mit Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen zusammenzukommen, um uns von unseren Sorgen, Erfahrungen und Initiativen zu erzählen, uns zuzuhören. „Trittsteine“ zu teilen, die uns in Krisenzeiten Halt geben. Energien zu bündeln und uns mit unserem besonderen Verständnis für Kommunikationsdynamiken im Stress auf die Suche nach dem Machbaren zu begeben, z. B. um beobachtbaren Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken.
Was wohl in einem solchen kontinuierlichen Gesprächs- und Erfahrungsraum entstehen könnte?
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine hoffentlich inspirierende Lesestunde mit diesem kleinen Heft.
Es würde uns freuen, wenn ihr danach Interesse habt, euch mit ein paar Leuten zu treffen und euch von euren Erfahrungen und euren Fragen zu erzählen, die euch gerade am meisten bedrücken oder am meisten freuen.
Cornelia Hennecke
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