Liebe Leser*innen,
seit jeher zeichnet sich systemische Praxis durch kreative Herangehensweisen aus und bietet einen Rahmen, der uns immer aufs Neue dazu einlädt zu experimentieren: Die Überzeugung, dass wir als Begleitende für die Prozessteuerung, nicht aber für Lösungen verantwortlich sind, schafft einen Nährboden für Kreativität – auch gestärkt durch die Haltung des Nicht-Wissens. Der Diskurs zum Thema zeigt sich lebendig, dynamisch und vielfältig, und wieder und wieder können wir ihnen begegnen: dem Mut, Ungewöhnliches zu gestalten, und der Lust, sich einzulassen auf das Unvorhersehbare. Und es bleibt weiterhin spannend zu fragen: Was bedeutet und ermöglicht Kreativität und welche Rolle spielt Intuition?
Zum Auftakt des Heftes folgt ein Interview mit Jürgen Kriz, der zunächst einen Einblick in die von ihm entwickelte Personzentrierte Systemtheorie gewährt. Seine Konzeption der vier Prozessebenen und ihre Wechselwirkung scheint ebenso bedeutsam für das Thema wie der Verweis auf die Gefahr von „Über-Stabilität“ als Hemmnis für Kreativität. In Bezug auf Beratung empfiehlt er, den Blick immer wieder auf das Neue bzw. kreative Potenzial zu richten und Intuition durch körperlich-sinnliche Prozesse gezielt zu nutzen.
Der Artikel von Wolfgang Loth knüpft an diese Überlegungen an, indem er die Bedeutung von Intuition als „gespürte Teilhabe am Ganzen“ hervorhebt und sich vertiefend dem Begriff nähert: Was genau können wir unter Intuition verstehen? Und wie wurde und wird im Diskurs systemischer Praxis dazu argumentiert? Deutlich werden kontroverse Perspektiven, und einmal mehr zeigt sich der Facettenreichtum eines Begriffs, der wissenschaftlich eher schwer zu fassen ist. Mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse in der Welt plädiert Loth dafür, Intuition als menschliche Fähigkeit zu begreifen und das Menschsein zu bewahren.
Thomas Reyer und Sandra Anklam stellen ihr Konzept „Künstlerisch-Systemische Therapie“ (KST) dar. Hierbei verfolgen Sie eine „duale Perspektive“, wie sie es nennen: Kreative, schöpferische Qualitäten künstlerischer Arbeit und die Veränderungswirksamkeit systemischer Prozessarbeit werden verknüpft, was offene Transformation anstoßen und nachhaltige Bewältigung von Problemen ermöglichen kann. KST wird dabei als nicht-heilkundlicher Entwicklungsraum entworfen, und der Beitrag endet mit dem Appell, systemische Ansätze als innovative, eigenständige Arbeitsformen zu erhalten.
Im dritten Beitrag geht Alexandra Peischer auf das Schreiben als Zugang zu Kreativität und Intuition und als einfaches Werkzeug für die Praxis in unterschiedlichen Settings systemischer Arbeit ein. Veranschaulicht durch ein Fallbeispiel erfahren wir, wie durch verschiedene Techniken kreativen Schreibens neue (Handlungs-)Ideen, Entwicklungen und Freude entstehen. Und es wird deutlich: Je mehr wir uns einlassen auf kreative Prozesse, desto mehr kommen wir mit unserer Intuition und unseren Emotionen in Berührung – und eine „durchlässige Offenheit“ kann sich förderlich entfalten.
Volker Kiel stellt die Resonanzbild-Methode als ein analog-bildhaftes Verfahren für die Arbeit mit Gruppen und Teams dar. Zugrunde liegen Annahmen aus der Gestalt- und Hypnotherapie sowie die Unterscheidung zwischen digitalem und analogem Denken nach König/Vollmer. Sein Anliegen ist, den Menschen im Sinne der humanistischen Psychologie als körperliches, geistiges und seelisches Wesen zu würdigen und ganzheitliches, intuitives und emotionales Empfinden für Entwicklungsprozesse zu nutzen. Die Methode wird anschaulich dargestellt, indem er immer wieder auf ein Fallbeispiel Bezug nimmt.
Auch Diana Semmler geht in ihrem Erfahrungsbericht auf die förderliche Wirkung von visuellen Darstellungen im Rahmen Systemischer Beratung ein. Die Arbeit mit dem „Selbstwert-Topf“, die auf Virginia Satir zurückgeht, ermögliche Klient*innen den Zugang zu eigenen Emotionen und Bedürfnissen – und Berater*innen die erneute Bewusstmachung, wie sehr die Stärkung des Selbstwerts auf Mut für Veränderung einzahlt.
Als erster Impuls folgt das sogenannte Schreibstück von Tanja Rohrer und Kathrin Iten mit dem inspirierenden Titel „Ein intuitiver Gedankenwirbel“. Begleitet von spielerischer Leichtigkeit nehmen die beiden uns mit in einen imaginären Theatersaal, auf dessen Bühne uns nicht nur die Themen Kreativität und Intuition begegnen. Vergnüglich gehen sie unter anderem der Frage nach, welche Kraft in Theaterkreationen und Improvisation liegen. Anna Gernat stellt im zweiten Impuls die Verbindung zwischen Kunst und systemischem Arbeiten genauer heraus – und plädiert für die Nutzbarmachung schöpferischer Prozesse als Potenzial für die Entstehung neuer Möglichkeiten. Unter Bezugnahme auf bekannte Autor*innen geht sie der Bedeutung von Kreativität detailliert nach und beendet ihren Beitrag mit drei mutmachenden Ermunterungen für systemische Praktiker*innen.
Die Beiträge enden mit Würdigungen für Haja Molter zum 80. und Jens Förster zum 60. Geburtstag.
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre und grüße Sie herzlich
Kerstin Schmidt
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