Liebe Leser*innen,
vor Ihnen, vor Euch liegt das 3. Heft der systhema 2024 mit dem Themenschwerpunkt „Systemik meets Diversity meets Diskriminierungskritik“. Nichts geschieht ohne den Kontext um uns herum. So ist auch dieses Heft im Kontext dieser Zeit zu lesen. „
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten.“ – Die Wahlerfolge der AfD als rassistischer, national-völkischer und rechtsextremer Partei (Cremer, 2021), Klima-Ungerechtigkeit, die Produktion von Armut und die Polarisierung von rassismuskritischen und antisemitismuskritischen Stimmen machen die Worte von Berthold Brecht von 1939 unaushaltbar aktuell.
Doch auch jene, die ernsthaft über Diversität und Diskriminierung diskutieren, erscheinen polarisiert. Sind sie das? Aladin El-Mafaalani hinterfragt zum Beispiel aus soziologischer Perspektive häufig verwendete Einschätzungen wie „aus den Fugen geraten“ oder „Gespaltensein“ und bietet „die These, dass es sich genau um das Gegenteil handelt. Die Gesellschaft wächst zusammen, und die Welt ist sich nähergekommen. Dadurch kommt vieles in Bewegung. Nicht alles kann gesteuert werden. Veränderungen erzeugen Spannungen und Konflikte.“ (2020, S. 17).
Wie beschäftigt das alles nun Systemiker*innen? Was geschieht im professionellen Beziehungshandeln unserer Arbeitsfelder in Therapie, Beratung und Supervision etc., während die Welt in Bewegung und Diversität und Diskriminierung nicht wegzudenken sind? Wie bleiben wir handlungsfähig oder systemisch*er gesprochen ressourcen- und lösungsfokussiert?
In diesem Heft versammeln wir fantastische Autor*innen, die klug und weitsichtig darüber nachdenken, wie sich die systemische Landschaft – den oben genannten Entwicklungen zum Trotz – in Richtung von Diversität, Demokratie und Menschenrechten weiterentwickeln kann. Dieses Heft ist damit nach dem Buch „Das hat ja was mit mir zu tun!?“ (Gold et al., 2021) und dem Themenheft Rassismus der Familiendynamik (Hunger-Schoppe, Hamacher, 2024) ein nächster rascher Schritt in einer Bewegung, die aus unserer Sicht möglicherweise die nächste große Veränderung für die Systemik bedeutet – eine Veränderung, in der wir uns vielleicht schon befinden und die wir begleiten möchten. Dabei ist für uns das Nachdenken in Gedanken an bell hooks (1991) eine befreiende und selbstermächtigende Praxis, die wir aus Notwendigkeit und zur „Gegenwartsbewältigung“ (M. Czollek, 2020) brauchen.
Im Heft spannen die beiden Beiträge von Josua Handerer und Jonathan Czollek das thematische Feld auf und setzen Systemik – Diversität und Diskriminierungskritk zueinander in Beziehung. Da bekanntlich die Systemik ohne die beobachtende Funktion/Person nicht zu denken ist, scheint dieses Feld sich durch den Beitrag von Thi Quynh-Nhu Tran und Kira Dücker mit dem Fokus auf die beobachtenden Personen zum (Erfahrungs-)Raum zu entwickeln, der ist bekanntlich dreidimensional. Die drei Beiträge von Christina Plath, Dario Kroll, Katharina Schuler & Ines Wamhoff sowie von Samja Zierott wenden sich dann spezifischen Themen im Feld zu.
Thi Quynh-Nhu Tran und Kira Dücker erkunden mit ihren scharfen und ehrlichen Beobachtungen, was notwendig ist, wenn Psychotherapie im Kontext einer rassistischen Gesellschaft stattfindet. Welche Selbstreflexionsimpulse und Gesprächsräume können rassismussensible Arbeit informieren? Bewusst haben wir ihren Praxisbericht an den Anfang gestellt, unterstreicht er doch die Bedeutung von Erfahrung für dieses Thema. Daran schließt der Beitrag von Jonathan Czollek an und bietet Unterschiedsbildungen und diskriminierungskritische Suchbewegungen an: Was ist ein hilfreicher Begriff von Diversität? Welche Bezugspunkte bestehen zwischen Systemik und Diversitätsarbeit? Welche produktiven Spannungsfelder entstehen in dieser Begegnung? Eine andere Perspektive auf Diversität hat Josua Handerer und stellt in seinem Beitrag Thesen zu Diversität und Beratung auf, bindet diese mit hoher systemischer Expertise an Begriffe unserer Disziplin an und endet mit drei Haltungen, die ihm in dieser Arbeit wichtig sind.
Nach diesen beiden Beobachtungen aus Metaperspektive widmet sich Christina Plath mit hohem Detailgrad der konkreten Methode der Genogrammarbeit und fragt nachdrücklich, inwiefern hierüber Normalität konstruiert oder verflüssigt werden kann. Dario Kroll, Katharina Schuler und Ines Wamhoff nehmen die theoretische Figur des Trilemma der Depathologisierung auf und wenden diese differenziert und gut verständlich auf den Kontext von ADHS-Diagnosen an. Sie suchen in ihrem Beitrag informiert und mit großer Differenziertheit danach, welche unterschiedlichen Arten es gibt, mit ADHS-Diagnosen umzugehen, ohne Diagnosen und Ableismus zu verfestigen. Die Originalbeiträge werden beschlossen von einer systemisch-diskriminierungskritischen Perspektive auf die Gesundheitsversorgung von trans* Menschen. Samja Zierott zeigt mit der Figur des Tetralemma pointiert und politisch klar auf, welche Möglichkeiten es gibt, zwischen professionellen Vorgaben, Klient*innenorientierung und Ethik handlungsfähig und verbündet mit trans* Klient* innen zu sein.
Die Autor*innen decken mit ihren Perspektiven und Expertisen ein breites Spektrum ab. Nichtsdestotrotz bleiben Themen unerwähnt, die wir in einem solchen Heft ebenso erwarten würden. So sind z. B. keine Fokusbeiträge den Themen Antisemitismus, Diskriminierung Ost, Klassismus, Lookismus oder Sexismus gewidmet, auch einige Formen von Queerfeindlichkeit, Rassismus und Ableismus bleiben hier trotz der Fokusbeiträge dazu unerwähnt. Hier warten kommende systhema-Hefte auf Autor*innen.
Den Autor*innen diese Heftes danken wir sehr für ihren Einsatz und ihre Bereitschaft, sich in unseren engen Zeitplan zu wagen. Auch uns selbst als Redaktionstandem sind wir dankbar: Conni Hennecke hat mutig Jonathan Czollek in die redaktionelle Kooperation inkl. eines eigenen inhaltlichen Beitrages hineingefragt; Jonathan Czollek hingegen hat diese Herausforderung mit viel Energie ernst- und angenommen. Der Prozess lehrte uns vor allem, dass die Herausgabe eines Heftes leider nicht der beste Ort für umfassende Diskussionen bis in die Tiefen eines Themas ist – diese warten nun noch auf weitere gemeinsam konsumierte Heißgetränke. Wir würden uns darauf freuen, miteinander, mit den Autor*innen und interessierten Leser*innen die Gedanken in diesem Heft zu diskutieren – jene, die wir für unverzichtbar halten, genauso wie jene Passagen, denen wir – teilweise vehement – widersprechen würden. Sehr willkommen wären uns Streitgespräche, die die Systemik weiterentwickeln – zu einer Disziplin, die demokratisch und in Anerkennung der Vielfalt und Menschenrechte aller daran arbeitet, dass alle „ohne Angst verschieden sein“ (Adorno, 1951, S. 56) können.
Wir wünsche allen eine interessante Lesereise und grüßen aus unserem Redaktionstandem
Cornelia Hennecke & Jonathan Czollek
Literatur
Adorno, T. W. (1951). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Società Filosofica Italiana – Sezione di Sulmona „Giuseppe Capograssi“. https://giuseppecapograssi.wordpress.com/wp-content/uploads/2013/08/minima_moral.pdf [Zugriff: 16.10.24]
Brecht, B. (15. Juni 1939). An die Nachgeborenen. Die neue Weltbühne, 24, 745-746.
Cremer, H. (2021). Nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Warum die AfD als rassistische und rechtsextreme Partei einzuordnen ist. Deutsches Institut für Menschenrechte. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/nicht-auf-dem-boden-des-grundgesetzes [Zugriff: 16.10.24]
Czollek, M. (2020). Gegenwartsbewältigung. Berlin: Hanser.
El-Mafaalani, A. (2020). Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Gold, I., Weinberg, E., Rohr, D. (2021). Das hat ja was mit mir zu tun?! Macht- und rassismuskritische Perspektiven für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg: Carl-Auer.
hooks, b. (1991). Theory as a Liberatory Practice. Yale Journal of Law and Feminism 4(1).
Hunger-Schoppe, C. & Hamacher, C. (2024). Editorial: Rassismus. Familiendynamik 49(1), S. 1.
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